In den letzten Jahren häufen sich die Fälle von Cybergrooming. Ein Blick auf Entstehung und Status Quo einer problematischen Entwicklung.
Lebenslange Haft. Die hat das Landgericht Gießen im September 2023 im Fall der ermordeten Ayleen verhängt. Die Kammer sprach den Angeklagten 30-jährigen Jan P. unter anderem wegen Mordes und versuchter Vergewaltigung mit Todesfolge schuldig und ordnete zudem eine Sicherungsverwahrung an. Angebahnt hatte Jan P. den Kontakt über Chats und das vor allem über das unter Kindern und Jugendlichen beliebte Battle-Royale-Spiel Fortnite. Damit ist der Fall Ayleen der in Deutschland wohl aktuellste und aufsehenerregendste Fall von Cybergrooming.
Kein Einzelfall
Der einzige ist er aber leider nicht. Schon gar nicht weltweit. 2022 berichtet die BBC von nicht-jugendfreien Räumen auf der Online-Spieleplattform Roblox – sogenannte Condos, in denen sich Spielende etwa zum virtuellen Sex treffen können. Das Problem: Im digitalen Raum ist kaum nachvollziehbar, wer sich mit wem trifft und ob da Minderjährige darunter sind. Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, kann weitere Fälle aus dem Stegreif schildern: In einem Fall in Berlin soll ein 29-jähriger Mann aus Wolfsburg, der sich als 15-jähriger ausgegeben hat, über das Spiel Fortnite Kontakt zu sechs Jungen im Alter zwischen 8 und 12 Jahren aufgenommen haben. In einem anderen Fall, so Rüdiger, »hat sich ein 57-jähriger Mann durch Software als junges Mädchen ausgegeben und damit 600 minderjährige Jungen zu digitalen sexuellen Handlungen gebracht«. 600 Opfer auf nur einen Täter – »sowas ist in dieser Form vermutlich nur durch digitale Mechanismen möglich«.
Und das sind nur jüngere Beispiele. Schon 2012 startet die Staatsanwaltschaft des Staates New York eine großangelegte »Säuberungsaktion« (purge). In der sogenannten »Operation: Game Over« werden über 3.500 Online-Konten bekannter Sexualstraftäter*innen in Kooperation mit Großkonzernen der Spiele-Branche wie Microsoft, Blizzard Entertainment, Sony und Electronic Arts gelöscht. Auslöser war ein Fall, der kurz vorher US-Schlagzeilen machte: Richard Kretovic, 19 Jahre alt, gesteht vor Gericht, einen zwölfjährigen Jungen über Xbox Live kennengelernt und über Monate hinweg dessen Vertrauen errungen zu haben. Dann lockte er ihn zu sich nach Hause. Und missbrauchte ihn.
Kinder und Jugendliche im Fokus
Cybergrooming stellt also bereits seit längerem ein Problem dar. Aber worum handelt es sich da eigentlich genau? »Unter Cybergrooming kann juristisch das onlinebasierte Einwirken auf ein Kind mit dem Ziel der Einleitung oder Intensivierung eines sexuellen Kindesmissbrauchs verstanden werden« so Cyberkriminologe Rüdiger. Das Anbahnen von Kontakt zum Zweck eines sexualisierten Austauschs. Gerade Online-Spiele, die unter Kindern und Jugendlichen populär sind, bieten dafür nahezu ideale Voraussetzungen. Auch weil die Sicherheits- und Schutzmechanismen der Anbieter selbst oft zu wünschen übrig lassen.
Besonders beliebt bei Heranwachsenden: Roblox und Fortnite. Allein Roblox verzeichnet täglich rund 40 Millionen aktive Spielende weltweit. Dabei macht die Altersgruppe unter 13 Jahren den größten Teil aus: 29 Prozent der Spielenden sind zwischen 9 und 12 Jahre alt, 25 Prozent sind sogar jünger als neun Jahre. Die Fortnite-Spielenden sind ebenfalls vergleichsweise jung: Über 60 Prozent der Spielenden sind zwischen 18 und 24 Jahren alt. In den USA machen Minderjährige 26 Prozent der Spielendenschaft aus und auch in Deutschland gilt Fortnite als beliebtestes Online-Spiel unter Minderjährigen.
Die Maßnahmen gegen potentielles Cybergrooming in den Spielen gehen zugleich oft nicht weit genug. Bezüglich der erwähnten Sex-Condos in Roblox beteuert das Unternehmen Roblox Corporation auf Nachfrage der BBC zwar, dass solche Räume sofort entfernt werden, sobald man sie finde. Muss aber zugleich einräumen, dass die Dunkelziffer hoch sei. Auf der Webseite selbst finden sich Guidelines zum Thema Kinderschutz und Bedienungstipps für Eltern und Erziehungsberechtigte. Man arbeite mit einem Chat-Filter, der die »öffentliche wie private« Chat-Kommunikation altersabhängig filtere, um »unangemessene Inhalte und die Veröffentlichung persönlicher Informationen« zu verhindern. Je nach Alter und »Erfahrung« stünden den Spieler*innen unterschiedliche Sicherheitseinstellungen und Chat-Optionen zur Verfügung. Spielende über 13 Jahre haben so beispielsweise mehr Textoptionen im Chat als jüngere. Bloß: Diese Schranke lässt sich ganz einfach durch die Erstellung eines Fake-Kontos umgehen.
Kein zuverlässiger Schutz vor Cybergrooming
Epic Games, die verantwortlich für das Spiel Fortnite sind, stellen für Elternanfragen ein gesondertes Kontakformular zur Verfügung. Die Community-Regeln bleiben ähnlich vage wie bei Roblox. Cybergrooming als Begriff wird in der Regelauflistung erst gar nicht erwähnt. Auf Nachfrage gibt Epic Games an, ähnlich wie Roblox sogenannte Cabined Accounts, also dem Alter der Nutzer*innen angepasste Kontoeinstellungen, und Eltern die Option der Kindersicherung anzubieten. Außerdem müsse man sich ja an die Community-Regeln halten, die unangemessenes Verhalten verbieten. Nach Ansicht von Expert*innen wie Robert de Lubomirz-Treter, Teamleiter der Digitalinitiative ZEBRA bei der Landesanstalt für Medien NRW, sind diese Maßnahmen aber wenig wirksam oder auch sinnvoll. »Kinder wissen, dass ihnen bei korrekter Antwort bei der Kontoerstellung einige Funktionen im Spiel nicht zur Verfügung stehen. Ohne wirksame Altersbeschränkung ist das Umgehen dieser Maßnahme denkbar einfach. Ein zuverlässiger Schutz vor Cybergrooming ist das nicht.«
Tendenz steigend
Dieser ist aber umso notwendiger. Denn: Die Fälle von Cybergrooming häufen sich. Laut der Studie »EU Kids online« des Hans-Bredow-Instituts sind jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge im Alter von neun bis 17 Jahren betroffen und wurden schon einmal mit anzüglichen Fragen oder sexualisierter Kommunikation konfrontiert. Tendenz steigend. Allein von 2018 auf 2019 ist die Zahl der gemeldeten Cybergrooming-Fälle in Deutschland um 34 Prozent auf 3.300 gestiegen. Laut BKA-Statistik ist sie im Jahr 2020 nochmal um 17,6 Prozent gestiegen. Die Dunkelziffer ist hoch. Eine repräsentative Umfrage des Landesanstalt für Medien NRW vom letzten Jahr zeichnet ein ähnlich bedrückendes Bild. Die Anzahl der Cybergrooming-Fälle nimmt demzufolge stetig zu. Fast ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen wurde bereits im Netz von Erwachsenen zu einer Verabredung aufgefordert oder es wurden Gegenleistungen für Nacktfotos versprochen. Das ist mehr als in den Vorjahren. Betroffen sind zudem zunehmend jüngere Kinder, vor allem Acht- bis Zwölfjährige. Hier muss also noch mehr unternommen werden.
Lichtblicke und aktuelle Entwicklungen
Ein Anfang sind sicherlich die jüngsten Entwicklungen im Jugendmedienschutz. Bis 2021 stammte der im Kern nämlich aus dem Jahr 2002 und war hoffnungslos veraltet. Online-Spiele, Streaming-Plattformen und soziale Netzwerke steckten damals gerade erst in den Kinderschuhen. Aber: Auch die aktuelle Rechtslage ist teils noch zu vage. So meint Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger: »Es gibt kaum verpflichtende Regularien zum effektiven Kinderschutz. So wurden Online-Spiele nicht im Netzwerkdurchsetzungsgesetz aufgenommen, was dazu führt, dass es bis heute keine verpflichtenden Meldefunktionen gibt.« Sein Fazit: »Insgesamt kann man sagen, dass gerade der Bereich der Online-Spiele beim Schutz von Kindern immer noch relativ schlecht aufgestellt ist.« Positiv ist, dass im Jahr 2020 etwa auch die sogenannte Versuchsstrafbarkeit eingeführt wurde. Das heißt, es werden nun auch solche Fälle juristisch verfolgt, in denen Tatverdächtige glauben, auf ein Kind einzuwirken, während sie aber tatsächlich mit Erwachsenen kommunizieren. Das erleichtert die Arbeit verdeckter Ermittler*innen.
Trotzdem: Gerade auch die Polizeiarbeit gehe bislang noch zu oft an der Gaming-Realität der Betroffenen vorbei, so Cyberkriminologe Rüdiger. »Die Plattformen, die die Polizei bedient, sind solche, die eher weniger von Minderjährigen genutzt werden«, schreibt Rüdiger etwa in der Fachzeitschrift pvt. Andere Länder sind da schneller. Wie etwa die USA schon 2012 in der Aktion »Operation: Game Over«. Oder die dänische Polizei. Die unterhält seit 2022 eine Polizeipatrouille, die speziell dafür ausgebildet und zuständig ist, sich undercover im digitalen Wendekreis von Fortnite, Twitch, Discord, Steam, Minecraft und Co. zu bewegen, um Übergriffe frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.