Cover Orwell
Spielbeurteilung

Orwell

Faszinierende Überwachungssimulation zu gesellschaftlichen Themen der Digitalisierung.

Eine Sicherheitskamera mit Gesichtserkennung hat eine Person ausfindig gemacht, für die bereits ein Polizeibericht vorliegt.
Der Spieler hat direkten Zugriff auf den Desktop des Notebooks von Juliet Kerrington.
Hochzeitsfoto von Josef Langley.
Chatverlauf zwischen Harrison O'Donell und dem Initiate.
4
5

Allgemeines

Vertrieb: Osmotic Studios
Spielewebsite: Website aufrufen
Erschienen: 20. Oktober 2016
Genres:

Jugendschutz & Altersempfehlung

USK Alterskennzeichen

Icon USK 12
USK ab 12 freigegeben (getestet im IARC Verfahren)

Spielmodi:

  • nur alleine spielbar

Pädagogische Altersempfehlung

14
spielbar ab 14 Jahren

Die textlastige Politiksimulation und die gesellschaftlichen Themen der Digitalisierung setzen Differenzierungsfähigkeit voraus.

Spielbeschreibung

Welchen Preis bringt innere Sicherheit mit sich? Wie fahrlässig gehen wir mit persönlichen Daten um, die wir im Netz mit anderen teilen? Dies sind nur zwei hochaktuelle Fragen, mit denen uns die Überwachungssimulation Orwell konfrontiert. Nachdem Unbekannte in Bonton, der Hauptstadt des fiktiven Staates „The Nation“, ein Bombenattentat verübt haben, wird das neue Überwachungsprogramm Orwell erstmals in der Praxis erprobt. Der*die Spieler*in wird zum unsichtbaren Ermittler, der die Täter aufspüren soll. Nahezu das komplette Spiel findet innerhalb der Benutzeroberfläche von Orwell statt. Diese legt großen Wert auf Zugänglichkeit und ist schnell zu beherrschen. Gilt eine Person als potentiell verdächtig, können wir ein Profil dieses Charakters anlegen. Auf fiktiven Webseiten – beispielsweise Blogs, einer Social-Media-Plattform oder einer Dating-Webseite – suchen wir nach Hinweisen, die eine Person mit dem Terroranschlag in Verbindung bringen könnten. Immer tiefer dringen wir in das Leben von Menschen ein, überwachen Telefonate, Chat-Nachrichten, E-Mails und lesen persönliche Daten von Computern und Mobiltelefonen aus.
Anstatt Daten von Computern automatisch auswerten zu lassen, hat die Regierung der „Nation“ einen ethischen Codex für Orwell geschaffen, der dem*der Spieler*in große Verantwortung überträgt. Nur er hat Einsicht in die farblich markierten Informationen, die für Orwell relevant sein könnten. Zieht er Daten per Drag-and-Drop-Verfahren ins Überwachungsprogramm, erhält sein Vorgesetzter Symes Zugriff auf diese. Nach seinem Ermessen kann Symes nun gegebenenfalls weitere Schritte einleiten, beispielsweise in Form von Verhaftungen. Behalten wir Details für uns, die den Verdächtigkeitsgrad einer Figur erhöhen könnten, weil wir mittlerweile nicht mehr an ihre Schuld glauben? Wie entscheiden wir uns, wenn wir widersprüchliche Daten auswerten müssen? Permanent wird das Abwägen von Entscheidungen erfordert und der*die Spieler*in zum intellektuellen Diskurs angestoßen.

Pädagogische Beurteilung

Minimalistisch aber effektiv

Neben der offensichtlichen George-Orwell-Referenz im Titel, ist das Spiel gespickt mit Zitaten des visionären Autors von „1984“ und „Animal Farm“. Einerseits vermittelt der Aspekt totaler Überwachung in Orwell großes Unbehagen, andererseits wird nie aus den Augen verloren, dass wir jemanden suchen, der den Tod unschuldiger Zivilisten zu verantworten hat. Zu welchem Grad der unsichtbare Hauptcharakter dem System folgt oder auch nicht, liegt am Ende in der Hand des*der Spieler*in. Unmissverständlich deutlich wird in jedem Fall, dass sich unsere hochtechnologische Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt.
Der optische Aufbau von Orwell ähnelt sowohl gängiger Anwender-Software für den PC als auch Facebook. Die Fenster und Menüs sind betont schlicht und übersichtlich gehalten. Bilder, Charakterprofile und Dokumente werden mit schicken Polygon-Grafiken dargestellt. Selbige wirken relativ realistisch, verwenden gleichzeitig jedoch einen leichten Unschärfe-Effekt als Stilmittel. Die Hintergrundmusik ist unaufdringlich, auf Sprachausgabe wurde komplett verzichtet. Selbst Telefonate werden schriftlich wiedergegeben. Die Bereitschaft, große Mengen an Text zu lesen, wird somit zwingend vorausgesetzt. Die Texte sind gutgeschrieben und tragen immens dazu bei, Charaktere lebensnah zu portraitieren.

Die Bedienung von Orwell

Die Benutzeroberfläche ist auf das Nötigste reduziert. Der Bildschirm ist in zwei große Bereiche unterteilt. Auf der linken Seite befindet sich Orwell; auf der rechten Seite finden sich sämtliche Informationsquellen, aus denen wir markierte Textstellen ins Programm ziehen können. Diese blau markierten Teile innerhalb eines Textes werden als „Datachunks“ bezeichnet. In der rechten Bildschirmhälfte stehen drei Werkzeuge zur Verfügung, mit denen wir nach Datachunks suchen können. Der Reader stellt einen Browser dar, mit dem sich fiktive Webseiten aufrufen lassen. Der Listener ermöglicht die Überwachung von Telefonaten, Chats und E-Mails. Mit dem Insider kann hingegen auf Daten von PCs und Mobiltelefonen zugegriffen werden; beispielsweise Fotos, persönliche Dokumente, Kontaktlisten oder Browser-Historien. Ziehen wir Datachunks in Orwell, werden oftmals weitere Quellen freigeschaltet. So bringt der*die Spieler*in schrittweise neue Erkenntnisse ans Licht. Datachunks mit widersprüchlichen Angaben sind in Gelb hervorgehoben. Hier gilt es entweder genauere Informationen zu erlangen, bis wir eine Variante in Orwell einfügen oder nach eigenem Empfinden zu urteilen. Im Übrigen sind nicht alle Datachunks von Interesse. Gibt eine Person auf ihrem Social-Media-Profil etwa das „Wunderland“ als ihre Adresse an, wird uns diese Information nicht weiterhelfen. Zu einem späteren Zeitpunkt verbleiben uns lediglich 20 Datachunks-Uploads, um rechtzeitig ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Vergeuden wir die begrenzten Uploads mit Lappalien, kommt es zu inhaltlichen Abweichungen im Finale. Grundsätzlich gilt: Sobald wir Orwell eine Information zugefügt haben, können wir diesen Schritt nicht rückgängig machen. Was einmal im System ist, bleibt im System.

Der Faktor Mensch

In einem Menü können jederzeit aktuelle Ziele angezeigt werden. Nach Ende eines Kapitels werden die wichtigsten Geschehnisse und Erkenntnisse übersichtlich zusammengefasst. Auf einer Übersichtsseite können wir uns sämtliche Quellen anzeigen lassen, auf die wir aktuell zugreifen können. Dank einer automatischen Bookmarkfunktion haben wir stets auch Texte im Überblick, die wir zu einem früheren Zeitpunkt bearbeitet haben. So kehren wir teilweise mit neuem Kenntnisstand zu älteren Quellen zurück und finden neue Zusammenhänge. Haben wir uns mit einem Text noch nicht beschäftigt oder enthält er neue Erkenntnisse, wird er in der Übersicht rot markiert. Ein längeres Festhängen ist somit kaum möglich.
Die Spielmechanik ist letztlich Mittel zum Zweck. Bedeutend ist insbesondere, was im Kopf des*der Spieler*in geschieht. Dies betrifft sowohl das Abwägen von Handlungen, als auch die grundsätzliche Reflektion. Entscheidungen müssen nicht unter Zeitdruck getroffen werden, Reaktionsfähigkeit ist somit nicht von Bedeutung. Dennoch kann Orwell in besonders dramatischen Momenten Stressgefühle auslösen, die sich primär auf emotionaler Ebene abspielen. Das Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen erweist sich grundlegend als beklemmende Spielerfahrung. Interessant ist Orwell für Spieler*innen ab 14 Jahren. Vorausgesetzt, sie verfügen über Differenzierungsfähigkeit und interessieren sich für aktuelle Themen aus den Bereichen Gesellschaft, Politik und Cyber-Technologie. Auf explizite Gewaltdarstellung wurde verzichtet. Die Texte beinhalten gelegentliche Kraftausdrücke wie „fuck“ oder „shit“.
Wir spionieren keine abstrakten Fantasiewesen aus. Ebenso wenig stellen die Observierten nur eine Nummer im System dar. Der Faktor Mensch ist von elementarer Bedeutung. Hier lassen sich Parallelen zum deutschen Film „Das Leben der Anderen“ erkennen, den die Entwickler Osmotic Studios selbst als Einfluss nennen. Im vielfach prämierten Drama wird Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler mit der Überwachung des Künstlers Georg Dreyman beauftragt. Dabei dringt Wiesler so tief in Dreymans Leben ein, dass er einen emotionalen Bezug zu ihm entwickelt. Auch in Orwell nähern wir uns dem Leben Anderer aus der Distanz: machen uns ein Bild von Charaktereigenschaften, möglichen Motiven und ganz alltäglichen Vorgängen; lernen unter anderem Familien, Freunde und/oder Beziehungspartner kennen. Das Spiel verdeutlicht, dass wir nicht einfach willkürlich Entscheidungen treffen können. Stets sind auch die Konsequenzen zu bedenken. Wird etwa wegen uns eine Person verhaftet, die sich kurze Zeit später als unschuldig erweist, kursieren längst Artikel zu ihrer Verhaftung im Internet. Womöglich wird unser Fehler den Charakter ein Leben lang begleiten. In solchen Situationen spielt Orwell mit den Schuldgefühlen des*der Spieler*in.

Fazit

Einerseits funktioniert Orwell als wendungsreicher Thriller. Stück für Stück werden neue Erkenntnisse gewonnen und der*die Spieler*in immer tiefer in die Spielwelt gesogen. Andererseits belegt die Überwachungssimulation, dass Spiele im Jahr 2016 viel mehr sein können, als bloßer Zeitvertreib. Orwell bewegt zur Reflektion aktueller Gegenwartsthemen und verzichtet auf vorgefertigte Antworten. Mit circa sechs Stunden fällt die Spieldauer nicht sonderlich üppig aus, dafür wirkt der Titel niemals künstlich gestreckt. Interessant ist Orwell für Jugendliche ab 14 Jahren, die sich nicht von langen Texten abschrecken lassen. Zusätzlich ist ein hohes Maß an Differenzierungsfähigkeit erforderlich.

Ähnliche Spiele