Was hat sich seit den Anfängen in Games und der Games-Industrie bezüglich Diversität verändert? Die Branche ist auf einem guten Weg – aber längst noch nicht am Ziel.
2018. Auf der damals noch existierenden Electronic Entertainment Expo (E3), einer der über lange Jahre weltweit bedeutendsten Spielemessen, küssen sich zwei Frauen auf großer Leinwand. Der Trailer zum Blockbuster-Spiel The Last of Us Part II, der Fortsetzung zum kommerziell erfolgreichen Endzeit-Actionspiel The Last of Us, zeigt Hauptfigur Ellie beim Kuss einer anderen Frau. Und sorgt nicht nur für Schlagzeilen in der Gaming-Fachpresse, sondern auch für hitzige Diskussionen innerhalb der Spielegemeinschaft, die sich die Köpfe darüber einschlägt, wie queer Spiele eigentlich sein sollten. Der Konflikt um einen einzigen Kuss eskaliert in Drohungen gegenüber den Spieleentwickler*innen des Spiels. Vorrangig weiße, ultrarechte cis Männer versuchen dem Spiel noch vor seinem Release mit Review Bombing gezielt zu schaden.
2018. Etwa zur gleichen Zeit. Videospieljournalist Sam Greer gräbt sich durch mehrere tausend Titel der Spielehistorie, auf der Suche nach Games, die LGBTQIA+-Menschen und -Themen darstellen. Das ernüchternde Ergebnis: Er findet gerade mal 179 Spiele. Von denen bieten wiederum lediglich 83 die Möglichkeit, einen queeren Charakter selbst zu spielen. Und davon haben nur geschlagene acht Spiele einen queeren Charakter als festgelegte Spielfigur – also nicht einfach nur als Auswahlmöglichkeit im Charaktereditor.
Ähnlich mager gestaltet sich die Darstellung von nicht-weißen ethnischen Menschen in Spielen. 2009 kamen nicht-weiße Charaktere in Spielen gerade mal auf zehn Prozent und wurden außerdem rassistisch-stereotyp dargestellt. Eine Studie von 2021 zeigt zwar, dass sich das inzwischen verändert hat: In untersuchten Spielen zwischen 2017-2021 waren „nur“ noch 54,2 Prozent der Hauptfiguren weiß. Aber: Noch immer knapp 80 Prozent davon waren männlich. Und: Sucht man nach mehrfach marginalisierten Menschen, die oft unter intersektionaler Diskriminierung leiden, dann tut man dies fast vergeblich. Ein Beispiel: Lediglich acht Prozent der Hauptfiguren sind zugleich weiblich und nicht-weiß. Nicht-weiße, queere Figuren mit Behinderung? Die Nadel im Heuhaufen.
Die Spieleindustrie ist, gerade in ihren Anfängen, aber noch bis heute, von weißen, heteronormativen Stereotypen und Vorstellungen geprägt. Das liegt vor allem daran, weil die Computerspielindustrie eine nach wie vor von weißen cis Männern geprägte Domäne ist. Laut Statistiken von 2021 sind 75 Prozent der Spieleentwickler*innen weltweit weiß. Zwar hat sich der Anteil der weiblichen Beschäftigten in der Spielebranche von mauen neun Prozent im Jahr 2009 auf mittlerweile rund 30 Prozent weltweit gesteigert und nicht-binäre Personen machen acht Prozent der Spieleindustrie aus. In Deutschland sind rund 25 Prozent der in der Branche beschäftigten Frauen. Nur: Das sagt natürlich nichts über die Verteilung dieser Prozentsätze innerhalb der Industrie aus. Und hier liegt das Problem: In den Führungspositionen muss man Frauen und nicht-binäre Menschen nach wie vor mit der Lupe suchen. Die Entscheidungsträger der milliardenschweren Gaming-Industrie sind also nach wie vor cis Männer. Das gilt auch für Deutschland. Auch hier arbeiten die in der Industrie beschäftigten Frauen vielerorts in Abteilungen jenseits der Spieleentwicklung, etwa im Marketing oder im Sales-Bereich und haben damit entsprechend geringeren Einfluss auf die Entstehung und Gestaltung der Spiele.
Auch auf Fachmessen wie der bereits erwähnten E3, die mittlerweile eingestellt ist, wurden und werden Defizite offensichtlich. Noch im Jahr 2019 stellte die mittlerweile leider in Auflösung begriffene feministische Initiative „Feminist Frequency“ um Medienkritikerin Anita Sarkeesian, die auch 2014 bei den Übergriffen rund um #gamergate zur Zielscheibe wurde, heraus, dass weibliche Speakerinnen auf der E3 mit nur 21 Prozent kläglich unterrepräsentiert waren.
Das alles ist umso problematischer, als die Zielgruppe längst diverser ist als die Macher*innen der Spiele selbst. Weltweit spielen über drei Milliarden Menschen aktiv Videospiele. Allein in den letzten sieben Jahren kam eine Milliarde Spielende hinzu. Tendenz steigend. Davon sind rund die Hälfte Frauen. Zwar unterscheiden sich die Verteilungen, etwa abhängig vom Spiele-Genre, teilweise immens. Dennoch: Die alte Mär vom Videospiel als Beschäftigung für pickelige Teenager-Jungs, die sich vielerorts nach wie vor hartnäckig in den Köpfen hält, ist längst überholt. Auch, weil das Durchschnittsalter der Spielenden weltweit bei 35 Jahren liegt. Das Verhältnis zwischen wer Spiele macht beziehungsweise über diese entscheidet und wer diese spielt hängt also ziemlich schief.
Das ist relevant, denn: Es hat Konsequenzen, wer Spiele macht und wer in Spielen wie repräsentiert wird. Spiele prägen wie andere Medien gesellschaftliche Kollektivbilder und Selbstverständnisse. Und das hat oft handfeste Folgen. In einer repräsentativen US-Studie von 2020 gaben 81 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18-45 Jahren an, in Online-Spielen schon einmal Belästigungen oder Beleidigungen erfahren zu haben. Davon erlebten knapp 70 Prozent ernstzunehmende Fälle von Missbrauch und Gewalt wie Androhungen körperlicher Gewalt oder Stalking. Einige der Spiele, in denen diese Fälle am häufigsten geschildert wurden: DOTA 2 (80 Prozent), Grand Theft Auto (76 Prozent) und Call of Duty (75 Prozent). Auffallend ist die massive Zahl der Übergriffe gegenüber marginalisierten Menschen: 41 Prozent der Frauen berichteten von sexistisch motivierten Angriffen, 37 Prozent der LGBTQIA+-Befragten gaben an, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität attackiert worden zu sein. Rund ein Drittel der nicht-weißen Befragten schilderten rassistische Fälle und 25 Prozent der Spieler*innen mit Behinderung schilderten ableistische Erfahrungen. Auch in der deutschen Gaming-Community sind Frauen vielfach sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Gerade für Spielerinnen in öffentlich exponierteren Positionen, etwa Twitch-Streamerinnen oder YouTuberinnen sind sexistisch motivierte Anfeindungen oft Alltag.
Aber: Es tut sich etwas.
In den Anfängen des Mediums war die Darstellung von Frauen, LGBTQIA+ und nicht-weißen Menschen meist noch stereotypisch wie die hypersexualisierte Lara Croft. LGBTQIA+-Themen waren von diskriminierenden Narrativen geprägt. Einige davon, wie etwa die „bury your gays“-Trope, halten sich hartnäckig. „Bury your gays“ bedeutet, dass queere Charaktere und Themen zwar aufgegriffen werden, aber regelmäßig ein vorzeitig tragisches Ende nehmen. Damit können die Entwickler*innen das Diversitäts-Kästchen abhaken, ohne queere Charaktere und Beziehungen eigentlich überhaupt tiefergehend einzuführen, so die Kritik. Außerdem werde dadurch ein pessimistisches und vielfach entmächtigendes Bild von nicht-binären Identitäten gezeichnet. Ein Beispiel: Das vielfach hochgelobte Story-Drama Life is Strange. Das stellt zwar eine queere Beziehung ins Zentrum der Story. Am Ende muss sich Protagonistin Max Caulfield aber entscheiden, ob sie ihre Freundin Chloe retten oder den alles vernichtenden Sturm aufhalten will, der die ganze Umgebung und alle Menschen darin vernichten wird. Die Kritik: So werde die lesbische Beziehung als intrinsisch egoistisch und ergo moralisch verwerflich dargestellt. Denn: Ist es nicht verwerflich, wenn er*sie sich, vor die Wahl gestellt, eine einzige, wenn auch geliebte, Person zu retten oder tausende von Menschen, sich für die eine Person entscheidet?
Die Entwicklung ist also durchaus ambivalent. Dennoch gibt es eine Veränderung hin zu mehr Diversität. Positivbeispiele sind etwa die zahlreichen Rollenspiele der letzten Zeit wie die Dragon Age-Reihe oder Baldur’s Gate 3, in denen nicht nur die Erstellung von Spielfiguren mit vielfältigen Geschlechteridentitäten mittlerweile der Normalfall ist, sondern in denen auch queere Beziehungen zwischen den Spielecharakteren gang und gäbe sind. Manche Spiele wie die Lebens-Simulation Die Sims gehen hinsichtlich der Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen schon lange mit gutem Beispiel voraus. Auch die Zahl der Spiele mit weiblichen Protagonistinnen in der Hauptrolle im Blockbuster-Bereich hat zugenommen. Figuren wie Senua in Hellblade: Senua’s Sacrifice oder Aloy in der Horizon-Serie bieten starke weibliche Vorbilder. Im intersektionalen Kontext hat zuletzt Alan Wake II in der FBI-Agentin Saga Anderson, einer POC-Frau mit schwedischen Wurzeln, eine vielschichtige Figur erschaffen. Zuvor hat Dontnod Entertainment schon 2020 im Story-Drama Tell Me Why mit dem ersten spielbaren Transgender-Charakter eines großen Studios Schlagzeilen gemacht.
Pionierarbeit hat hier sicherlich auch der Indie-Bereich geleistet. Spieleentwickler*innen und Künstler*innen wie Anna Anthropy, Christine Love, Robert Yang oder Angela Washko sind nur einige Namen einer international aktiven, lebendigen Indie-Szene, die Spiele in all ihrer diversen Vielfalt schaffen. Eben diese Indie-Akteure müssten aber mehr gefördert werden. Denn: Die Statistik zeigt, dass queere Indie-Entwickler*innen maßgeblich für den Anstieg queerer Themen und Darstellungen in Spielen weltweit verantwortlich sind. Gerade die sind es aber auch, die oft unter prekären Bedingungen arbeiten und leben müssen. Es sind also ausgerechnet die prekär Arbeitenden, die die Industrie insgesamt voranbringen.
Insgesamt lässt sich festhalten: Diversität spielt sowohl in Games selbst als auch in deren Entstehungskontexten mehr und mehr eine Rolle. Dazu bekennt sich auch der game-Verband der deutschen Games-Branche e.V. und setzt sich vielfältig dafür ein: „Als Games-Branche ist uns eine inklusive, wertschätzende und diskriminierungsfreie Games-Kultur sehr wichtig.“ so Geschäftsführer Felix Falk. „Darum haben wir gemeinsam mit vielen Unternehmen die Initiative ‚Hier spielt Vielfalt‘ gestartet, mit der die Branche seitdem ein klares Signal für Diversität aussendet.“ Die gemeinsame Erklärung sei innerhalb Deutschlands mittlerweile zum Grundkonsens der Branche zum Thema geworden. Mehr als 1.600 Einzelpersonen und Unternehmen haben bereits unterschrieben und es kommen laufend neue hinzu. Falk erklärt: „Zahlreiche Games-Unternehmen und -Institutionen gehen dabei mit großartigen Beispielen und eigenen Initiativen voran, in Bereichen wie Chancengleichheit, Barrierefreiheit oder Repräsentation von Frauen oder marginalisierten Gruppen in den Games und auch als Teil der Belegschaft.“ Und: Der Bundesverband stellt einen Best-Practice-Guide mit Tipps und Hilfestellungen zur Verfügung.
Das ist eine wichtige Entwicklung. Denn: Die Sichtbarmachung vielfältiger Identitäten in Bezug auf Geschlecht oder Hautfarbe ist Voraussetzung für eine offene Gesellschaft. Spiele erreichen weltweit ein Milliardenpublikum, haben entsprechende Wirkmacht und können sich daher schon lange nicht mehr auf das Scheinargument berufen, doch lediglich als Nischen-Unterhaltungsmedium zu wirken. Dieser Verantwortung sollte die Industrie gerecht werden.