Je nachdem, wen man fragt, sind Videospiele mal Heilsbringer, mal Höllenausgeburt. Was stimmt? Ein Blick in die Debatte der Medienwirkung.
von Nora Beyer
Ein pixeliges Raumschiff im schwarzen All, das auf ebenso pixelige Aliens schießt. Heute ist das Spiel »Space Invaders«, das erstmals 1978 erschien und zu den Klassikern der Videospielhistorie gehört, trivial. Damals: Ein Skandal. Szenenwechsel. Es ist das Jahr 2002. Die »Killerspieldebatte« wird zur Catchphrase in Politik und Öffentlichkeit. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) prägte sie. Nach dem Amoklauf in Erfurt im selben Jahr wurden Videospiele, vor allem solche, die Gewalt enthielten, unter Generalverdacht gestellt. Ego-Shootern wie »Counter-Strike« und »Grand Theft Auto« wurde eine pauschal schädigende Wirkung attestiert, die Heranwachsende verrohen und letztlich gewalttätig werden ließe. Was wenig bekannt ist: Bereits in den 1980er Jahren wurde diese Diskussion geführt. Als nämlich jenes einleitend erwähnte Pixel-Spiel »Space Invaders« an den Arcade-Automaten für damalige Verhältnisse viral ging, war das Politik und Öffentlichkeit ein Dorn im Auge. Schnell war auch ein Begriff dafür gefunden: Der »Killerspielautomat« bringe die Jugend in Gefahr.
Medienskepsis hat Tradition
Beckstein befand sich mit seiner Sündenbocktheorie also schon damals in guter Gesellschaft. Medienskepsis hat eine lange Tradition. Weiß Prof. Dr. Sven Jöckel. »Schaut man ein wenig zurück, fällt auf, dass sich diese Diskurse wiederholen.« stellt er im Interview fest. Jöckel ist Inhaber der Professur für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Erfurt und forscht zum Thema Medienwirkung. »Ende des 18. Jahrhunderts waren es Bücher, denen man ähnliche negative Wirkungen – besonders auf junge Frauen – zuschrieb wie heute Computerspielen. In den 1970er Jahren war es dann das Fernsehen. Und als schließlich Computerspiele aufkamen eigneten die sich noch besser als vermeintlicher ‚Sündenbock‘ für verschiedene Übel.« Solche Diskurse sind dabei längst nicht nur destruktiv, so Jöckel: »Klassiker der Weltliteratur wie Miguel de Cervantes Don Quijote hätte es vermutlich nie gegeben, wenn nicht irgendwann mal die Ritterromane im Fokus der gesellschaftlichen Debatte gelandet wären.«
Goethe ist gefährlich
Die Auseinandersetzung mit neuen Medien läuft dabei nach stets ähnlichen Prinzipien ab. Alles beginnt mit Angst. »In der Forschung sprechen wir hier von ‚Media Panics‘.« erklärt Jöckel. Die bezeichne moralisch aufgeladene gesellschaftliche Diskurse, die immer, wenn ein neues Medium an Bedeutung gewinnt, auftrete und meist nach dem gleichen Muster ablaufe. Kern der Angst: »Etablierte Akteure befürchten, dass dieses neue Medium die Gesellschaft korrumpiere.« Das ging so weit, dass im 18. Jahrhundert etwa Lesesucht diagnostiziert und Leseverbote durchgesetzt wurden. Ein Beispiel für einen damals als besonders gefährlich begriffenen Text: Johann Wolfgang von Goethes »Die Leiden des jungen Werther«. Lesen galt als Gefahr für Leib und Seele. Insbesondere Frauen und Kinder, die man als leicht beeinflussbar und empfindsam stilisierte, schienen in Gefahr zu sein. Denn: Lesen sei nicht nur körperlich schädigend, sondern wirke verderblich auf den Seelenzustand und den moralischen Anstand. Goethes »Werther« etwa, so der Vorwurf, verführe junge Menschen zum Selbstmord und untergrabe religiöse und moralische Werte. Der Backlash war so extrem, dass sich Goethe selbst genötigt sah, seinen Roman 1787 teilweise umzuschreiben.
Der Champagner muss weg
(Nachträgliche) Änderungen an besonders kritisch rezipierten Inhalten sind auch in der Videospielindustrie gang und gäbe. Spiele wie »Mortal Kombat« oder »Grand Theft Auto« sind bekannt für ihre Gewaltexzesse und haben entsprechend viel und häufig mit nationalen Jugendschutzbehörden zu tun. Die in Videospielen vorgenommenen Zensuren sind mal mehr, mal weniger umfangreich. Und ab und an absurd. Schießt man in der deutschen Version des 1998 erschienenen Ego-Shooters »Half-Life« auf Forscher*innen, sterben die nicht, sondern setzen sich lediglich kopfschüttelnd auf den Boden. Erst 2017 wurde die Indizierung des Spiels aufgehoben. Mittlerweile zählt »Half-Life« zu einem der wegweisenden Titel der Videospielhistorie. Selbst harmlos scheinende Spiele wie das Rennspiel »Super Mario Kart« sind vor Zensur nicht sicher. Nach Kritik an der Siegesszene, in der die Hauptfiguren auf dem Siegerpodest aus pixeligen Champagner-Flaschen trinken, wurde die Szene umgestaltet: Die Flaschen stehen seitdem nur noch auf dem Podium – und werden nicht mehr getrunken.
Korrelation statt Kausalität
Die Angst vor schädlichen Wirkungen von Videospielen ist groß. Und begleitet das Medium bis heute. Was aber ist eigentlich dran an der Diskussion? Die Medienwirkungsforschung spürt genau dieser Frage nach. Abschließende Antworten hat sie bis heute nicht. »Der negative öffentliche Diskurs über gewalttätige Videospiele hat einen seiner Hauptgründe in der Angst, dass solche Spiele zu einer Zunahme von aggressivem Verhalten und gewalttätigen Tendenzen bei Spielern führen könnten.« meint Prof. Dr. Andreas Fahr. Er leitet den Lehrstuhl für Mediennutzung und Medienwirkung an der Université de Fribourg und forscht zum Thema. »Diese Angst wurde durch Medienberichte über gewalttätige Vorfälle, die mit Videospielen in Verbindung gebracht wurden, sowie durch Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Spielen von Gewaltvideospielen und aggressivem Verhalten nahelegten, unterstützt.« erläutert Fahr. Solche Fälle gab und gibt es zwar, nur: »Das ist jeweils eine Korrelation und nicht zwangsläufig eine Kausalität.« Heißt: Es bestehe nicht automatisch eine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Kurz: Wer gewalthaltige Spiele spielt, wird nicht automatisch gewalttätig. Und die Kausalität könne auch umgekehrt sein: Wer gewalttätig sei, spiele auch gewalthaltige Spiele. Was sicher scheint, so Fahr: »Das Spielen von gewalthaltigen Spielen dürfte Aggressionen zumindest in den seltensten Fällen reduzieren.«
Keine einfachen Antworten
Bisherige Studienergebnisse zeigen in eine Vielfalt von Richtungen. Das Thema ist komplex. Fahr erläutert: »In verschiedenen Forschungsbereichen konnten sowohl positive wie auch negative Auswirkungen festgestellt werden.« Auf der positiven Seite könnten Videospiele etwa kognitive Vorteile bringen – wie die Verbesserung des räumlichen Denkens, der Aufmerksamkeit und der Problemlösungsfähigkeiten. Einige Studien wiesen sogar darauf hin, dass Videospiele Sozialkompetenzen schulten, beispielsweise die Verbesserung der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit. Soziale Interaktionen und Freundschaften würden in und durch Videospiele geübt und geschlossen. Aber es gibt auch negatives Potenzial: »Aggression, Abhängigkeit und verminderte schulische Leistungen sind mögliche Risiken, die die Forschung im Zusammenhang mit Videospielen aufgezeigt hat.«, so Fahr. Wichtig sei allerdings: »Die Auswirkungen von Videospielen hängen von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Wie etwa dem Inhalt des Spiels, der mit dem Spielen verbrachten Zeit und individuellen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Persönlichkeit und sozialer Kontext.«
Eindeutig uneindeutig
Hierin liegt die besondere Herausforderung der Medienwirkungsforschung. Es sei schwierig, so Kommunikationswissenschaftler Andreas Fahr, alle Faktoren zu berücksichtigen, die aggressives Verhalten beeinflussen können. Das familiäre Umfeld, soziale und kulturelle Faktoren und individuelle Merkmale – das alles sind Elemente, die Verhalten steuern. Das Spielen von Videospielen kann auch ein beeinflussender Faktor sein. Aber einer, der sinnvollerweise eben nicht isoliert betrachtet oder gar verantwortlich gemacht werden kann. So sind die bisherigen Forschungsergebnisse nicht eindeutig: »Einige Studien legen einen Zusammenhang zwischen dem Spielen von Gewaltvideospielen und erhöhter Aggression nahe, während andere keine derartige Korrelation feststellen.« Der Status Quo der Medienwirkungsforschung in Bezug auf Videospiele ist dann auch eindeutig uneindeutig. In den Worten des Medienwissenschaftlers Sven Jöckel: »Wir wissen inzwischen recht sicher, dass bestimmte Computerspiele unter bestimmten Umständen auf bestimmte Menschen bestimmte Wirkungen haben können.« Das heißt: »Ein und dasselbe Spiel kann, je nachdem, wer es nutzt und vor allem, wann und wie es genutzt wird, ganz unterschiedliche Wirkungen haben.«, so Jöckel.
Aktuelle Entwicklungen
Es bräuchte noch mehr experimentelle Langzeitstudien, so Andreas Fahr, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Immerhin: Mithilfe neuer Technologien bleibt die Forschungsrichtung in Bewegung. Ein Beispiel ist der Einsatz von Neuroimaging-Techniken zur Untersuchung der Auswirkungen von Videospielen auf das Gehirn. Studien zeigen, dass das Spielen von Videospielen zu Veränderungen der Gehirnaktivität führen kann – im positiven wie negativen. Außerdem, so Medienwissenschaftler Jöckel: »ist die Forschung derzeit dabei, immer mehr der Kontextfaktoren zu untersuchen, um ein detailliertes Bild der Umstände von Medienwirkungen zu zeichnen.« Das soll auch die Frage beantworten, warum ein und dasselbe Spiel für verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Effekte haben kann. Jöckel erklärt: »Für Menschen in einer bestimmten Entwicklungssituation – meist junge Erwachsene in Umbruchssituationen – und einer bestimmten Stimmungslage – etwa bei depressiver Verstimmung – können Spiele das Risiko erhöhen, sich weiter sozial zurückzuziehen. Während das gleiche Spiel für andere Menschen einen positiven Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, etwa hinsichtlich der Teamfähigkeit oder dem Aufbau von Freundschaften, leisten kann.«
Neue Technologien – neue Herausforderungen
Zusätzlich herausfordernd: Das Aufkommen neuer und hyper-immersiver Technologien wie Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR). Via spezieller VR- und AR-Brillen und Motion-Tracking-Technologien ist das Spielen hier um ein Vielfaches ‚hautnäher‘ am individuellen Erleben als bei herkömmlichen Computer- und Konsolenspielen. Es wird »ein Gefühl der physischen Präsenz in einer virtuellen Umgebung« vermittelt, so Kommunikationswissenschaftler Andreas Fahr. Das hat Folgen: »Dieser Grad der Immersion kann dazu führen, dass sich das Spielen eines VR-Spiels realistischer und intensiver anfühlt.«, so Fahr. »Das verstärkt das Gefühl des Eintauchens und der Präsenz im Spiel. Und das kann sowohl positive wie negative Auswirkungen haben.« Es könne die Spielerfahrung fesselnder und angenehmer machen. Aber auch negative Auswirkungen wie Übelkeit, Desorientierung und emotionaler Stress sind möglich. Insgesamt gibt es hier noch wenig Forschung und viele Unklarheiten, wie diese neuen Technologien im Vergleich zu herkömmlichen Computerspielen wirken.
Weder Heilsbringer, noch Höllenausgeburt
Eine radikal vergrößerte Wirkmächtigkeit erwartet Medienwissenschaftler Sven Jöckel aber eher nicht: »Schon im Vergleich Fernsehen zu Computerspielen hatte man erwartet, dass durch die Interaktivität im Spiel mögliche positive wie negative Wirkungen bei Spielen größer sind.«, gibt Jöckel zu bedenken. »Es zeigt sich aber, dass sich die Wirkungen zwar durchaus unterscheiden können, aber die Größenordnungen sich überraschend ähneln.« Für ein Fazit ist es hier freilich noch zu früh. Auch, weil potentielle Game Changer-Technologien wie VR und AR noch weit von der ganzheitlichen immersiven Utopie entfernt sind, die man aus Science-Fiction-Filmen kennt. Noch gibt es zu viele Brüche im Unterhaltungserleben, noch ist die virtuelle Welt nicht gänzlich immersiv, das Equipment teuer und sperrig, der Bewegungsradius begrenzt. Wie viel Einfluss haben Spiele nun also auf den Menschen? Sind sie Heilsbringer oder Höllenausgeburte? Weder noch. Ein vorläufiges Fazit könnte sein: Videospiele können sowohl positive wie auch negative Wirkungen auf erwachsene wie heranwachsende Menschen haben. Mit einer wichtigen Einschränkung: »Meist sind diese Wirkungen schwächer als angenommen.«, so Medienwissenschaftler Jöckel. Das ist so erhebend wie ernüchternd: »Mit Blick auf die negativen Wirkungen wie Gewalt und Abhängigkeit ist das beruhigend. Aber es ist auch frustrierend: Videospiele werden nicht zu einer Lernrevolution führen und wir werden durch sie nicht alles besser verstehen.«