Twitch und Co. – Probleme und Potentiale von Games-Streaming

30.10.2023 | Jugendkultur

Milliardenhohe Umsätze, junges Publikum. Die Streaming-Branche zieht gerade Kinder und Jugendliche an. Welche Manipulationsmechanismen gibt es und wie kann ein verantwortungsbewusster Umgang beim Games-Streaming aussehen? Eine Streamerin und ein Wissenschaftler berichten.

von Nora Beyer

Montana Black

Streamer*innen wie MontanaBlack88 erreichen ein Millionenpublikum. Und das mit manchmal problematischen Inhalten. (Quelle: Philipp Schulze / dpa vie Spiegel Online)

Traumjob Twitch-Streamer*in. Games-Streamer*innen wie MontanaBlack88, Shurjoka oder Gronkh sind Idole der Szene und haben teils mehrere Millionen Follower*innen auf Twitch. Manche davon durchaus umstritten wie Streamer MontanaBlack88, der wegen sexistischer Äußerungen auf Twitch bereits zweitweise gesperrt wurde. Dennoch: Täglich verfolgen weltweit etwa 15 Millionen Zuschauer*innen, wie andere League of Legends, Counter-Strike: Global Offensive, Playerunknown’s Battleground, Fortnite und Co. spielen. In sogenannten Educational Streams werden Streamer*innen zu Lehrmeister*innen – hier liegt der Fokus darauf, in einem bestimmten Spiel besser, heißt erfolgreicher, zu werden. Auf das Potential von Plattformen wie Twitch als Lehr- und Bildungsmedium weisen Studien immer wieder hin, etwa in »Beyond Gaming: The Potential of Twitch for Online Learning and Teaching«. Ein großer Teil der Streams fokussiert sich allerdings auf reine Unterhaltung. Streamer*innen mit entsprechender Reichweite winken geldwerte Werbedeals und die oftmals loyale Aufmerksamkeit einer riesigen Fangemeinde. Reichweite übersetzt sich dabei in Bares. Je mehr Reichweite, desto besser. Die Streamer*innen und die hinter ihnen stehenden Agenturen haben ein entsprechend großes Interesse daran, Zuschauer*innen zu gewinnen und zu halten.

Gemeinschaftsgefühl gezielt generiert

Christian Ebner

Christian Ebner vom Fachbereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt am Main forscht zum Thema. (Quelle: Christian Ebner)

Das funktioniert besonders gut über ein Zugehörigkeitsgefühl, das gezielt generiert wird. Und gerade bei Kindern und Jugendliche besonders wirksam ist. »Streams bieten die Möglichkeit, sich als Teil einer sehr individuellen Gemeinschaft zu erleben« weiß Christian Ebner vom Fachbereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. »Dieses Gemeinschaftsgefühl entsteht dabei nicht nur durch die permanente Ansprache des Streamenden an die Zuschauenden und die Interaktion mit dem ‚Chat‘ als Person, sondern wird durch Features ausdrücklich gefördert.« Ein Beispiel: Manche Emotes sind in Streaming-Chats kostenpflichtigen Mitgliedschaften vorbehalten. Das fördere die Exklusivität und das Wir-Gefühl der zahlenden Subscriber*innen und biete »die Abgrenzung zu anderen, nicht zahlenden« Zuschauenden. Es entwickelten sich quasi-eigene Sprachen und mit den Channel-Emotes verbundene Insider-Witze, die ein Gemeinschaftsgefühl entstehen ließen. Im Umkehrschluss bedeutet das dann aber eben auch oft: Wer dazugehören will, muss zahlen.

»Eine fesselnde Erfahrung«

Attraktiv ist das breite Angebot auf Twitch trotzdem, oder gerade deshalb, für viele. »Viele Menschen finden es unterhaltsam, anderen beim Spielen zuzusehen. Twitch kann auch eine großartige Plattform sein, um neue Spiele, Technologien oder neue Fähigkeiten zu entdecken und zu lernen« meint Rebecca Raschun. Raschun, alias JustBecci, hat fast 40.000 Follower*innen auf Twitch und steht für führende Unternehmen der Branche vor Kamera und Mikro. »Insgesamt ist das Streamen eine fesselnde Erfahrung, die Interaktivität, Community-Building, Unterhaltung und Karrieremöglichkeit bietet.« Auch für Nicht-Streamer*innen geht die Aktivität weit über das rein passive Zuschauen hinaus, meint Christian Ebner: »Besonders interessant scheint beim Austausch zu sein, dass man als Person des ‚Chats‘ vollkommen anonym mit dem Streamenden spricht, die wie in einer analogen Interaktion reagieren – die Zuschauenden haben somit also die ‚Vorteile‘ aus analoger und digitaler Welt gleichzeitig.« Und fügt hinzu: »Zusätzlicher großer Anreiz ist das gemeinschaftliche Erleben von besonderen ‚Events‘.« Raschun schildert das aus ihrer Sicht als Streamerin so: »In meinen ‚Just Chatting‘-Runden diskutiere ich gemeinsam mit der Community Themen, lerne Neues und löse zusammen Probleme. Das schätze ich sehr, das hat dann den Effekt einer Schwarmintelligenz.« 

Rebecca Raschun

Rebecca Raschun ist professionelle Streamerin und hat fast 40.000 Follower*innen auf Twitch. (Quelle: Rebecca Raschun)

 

Einfluss und Abgründe

An Twitch führt im Bereich Games-Streaming dabei kein Weg vorbei. Das ist nicht unproblematisch. Das 2011 entstandene Portal, das als Schwesterplattform aus dem 2010 von Justin Kann gegründeten Streamingportal Justin.tv hervorgeht, ist der Platzhirsch unter den Streaming-Portalen. Bereits 2013 verzeichnet Twitch monatlich mehr als 45 Millionen Zuschauer*innen weltweit. Ein Jahr später kauft Megakonzern Amazon das Unternehmen für rekordverdächtige 970 Millionen US-Dollar. Während der weltweiten Corona-Pandemie steigt der Umsatz des Portals von 2020 auf 2021 nochmal um 41 Prozent, erreicht im Jahr 2021 einen Umsatz von rund 2,7 Milliarden Dollar. Monatlich kann Twitch mittlerweile mehr als 100 Millionen aktive Nutzer*innen verzeichnen. Von den weltweit rund neun Millionen Streamer*innen sind Frauen in der Unterzahl. Ein Leak 2021 zeigt: Unter den 100 bestverdienenden Streamer*innen sind gerade mal drei Frauen. Und eine Bryter-Studie aus dem Jahr 2020 stellt fest: Nur 27 Prozent der Top-3000 Game-Streamer*innen auf Twitch und Co. sind weiblich. Das hat Folgen. Laut der Studie ist sexistischer oder misogyner Streaming-Content an der Tagesordnung, Toxizität und Diskriminierung ebenso. 58 Prozent der weiblichen Spielerinnen geben an, im Online-Gaming Missbrauch erfahren zu haben. 

Zielgruppe: Kinder und Jugendliche

Brisant wird das Ganze umso mehr, wenn man sich die Zielgruppe ansieht: Das Durchschnittsalter der Twitch-Nutzer*innen beträgt 21 Jahre. Kinder und Jugendliche machen einen großen Teil der Zuschauer*innen aus. Gerade im Hinblick auf die teils suchtfördernden Mechanismen, die im Streaming zum Einsatz kommen, kann das zum Problem werden, meint Christian Ebner: »Neben dem Gemeinschaftsgefühl bieten Streams eine Reihe von Gründen, die jeweiligen Streams immer wieder aufzusuchen. Zum Beispiel sammelt man auf Twitch durch das bloße Zuschauen ‚Channel-Points‘, die man dann gegen besondere Chat-Funktionen eintauschen kann. Bei Spielen mit kosmetischen Items gibt es vereinzelt die Funktion ‚Twitch-Drops‘. Das heißt, dass man als Zuschauer*in eine Kiste, Skin oder ähnliches erhält, wenn man einem bestimmten Stream eine bestimmte Zeit lang zugesehen hat.« Zuschauen wird also belohnt. Und kann zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf führen. Hier sieht auch Rebecca Raschun alias JustBecci ein Gefahrenpotential: »Egal, ob Konsument*in oder Streamer*in – Streaming kann dazu führen, dass man weniger Zeit für soziale Interaktionen, körperliche Aktivitäten oder andere wichtige Aktivitäten außerhalb des Streams hat. Wenn man außerdem eine lange Zeit mit dem oder der Lieblings-Streamer*in verbringt, können parasoziale Beziehungen entstehen.« Das heißt: »Zuschauer*innen glauben dann, man sei sehr gut mit ihnen befreundet, obwohl man sich ja eigentlich gar nicht kennt.« 

Zu wenig Jugendschutz

In diesem Zusammenhang kritisiert Rebecca Raschun vor allem auch den oft mangelhaften Jugendschutz: »Der lässt eher zu wünschen übrig.« Das sieht Christian Ebner ähnlich: »Streamer*innen sind in den Inhalten, die sie teilen, nur wenig kontrolliert, sodass Inhalte oder Bilder schnell altersunangemessen sein können.« Zwar gäbe es grundsätzliche Regeln der jeweiligen Streaming-Plattform, die eingehalten werden müssten. Die reichten aber oft nicht sehr weit und darüberhinausgehende Regelungen ergäben sich meist eher aus Selbstverpflichtungen, die der jeweiligen »Marke« des Streamenden dienen, so Ebner. Bindend sind die nicht. Wie Raschun sieht auch Ebner die potentielle zeitliche und gedankliche Vereinnahmung der Zuschauenden kritisch: »Gerade durch die Belohnungssysteme sind Kinder und Jugendliche auch während der Schulzeit oder anderer Verpflichtungen angehalten, sich mit dem Spiel zu beschäftigen.« 

Zwei Helden des roten Teams nähern sich der Basis des roten Teams und greifen diese an. Zwei Helden des blauen Teams versuchen die Basis zu verteidigen.

League of Legends ist eines der beliebtesten Spiele auf der Streaming-Plattform Twitch. Allein im Januar 2023 konnte es laut Statista rund 126,5 Millionen Zuschauerstunden verzeichnen. (Quelle: Epic Games)

 

Probleme und Potentiale

Eltern rät er, sich einen Überblick über die von den Kindern genutzte Streaming-Seite zu machen. Einfach ist das allerdings längst nicht immer: »Die Seiten von Gaming-Streams sind leider unübersichtlich aufgebaut, sodass der Überblick häufig schwierig ist.« Vor einer Orientierung an selbsternannten »family-friendly«-Streamer*innen warnt er – eben weil diese Tags und selbstgegebenen Etiketten nicht reguliert werden und es keinen Garant dafür gibt, dass die Inhalte tatsächlich angemessen sind. Was sich auf alle Fälle empfiehlt: »Vor dem Konsum mit dem Kind klare Regeln zu vereinbaren, die Inhalte, Art und Dauer der Seiten-Nutzung regeln.« Aufmerksam werden sollten Eltern, wenn Kinder nach dem regelmäßigen Schauen von Games-Streams Geld ausgeben wollen, um Streamer*innen zu unterstützen. Und: »Ein Hinweis auf starken Konsum von Games-Streams könnte eine merkliche Veränderung der Sprache sein«, so Ebner. »Da werden dann beispielsweise Namen von Emotes in der Sprache eingebunden.« Ein Alarmzeichen sei außerdem eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit. Diese kann von nächtlichen Streams herrühren, weil besondere Events häufig zu Uhrzeiten ausgestrahlt würden, die international die meiste Aufmerksamkeit erhielten: »In Europa ist das dann meistens mitten in der Nacht.« 

Streaming trägt also viel problematisches Potential in sich – von suchtfördernden Mechanismen bis hin zu toxischen, sexistischen und gewaltverherrlichenden Communities. Pauschal gilt das aber natürlich nicht. Games-Streaming hat auch viel Potential zum Positiven. Für Rebecca Raschun alias JustBecci ist etwa Selbstermächtigung innerhalb einer prinzipiell zugewandten sozialen Gruppe ein ganz zentraler Aspekt: »Streaming bietet viele Möglichkeiten, sich und seine Talente einem Publikum zu präsentieren.« Und das auf äußerst freie und kreative Weise: »Sei es zum Beispiel Theater spielen oder eine Morning Show auf die Beine zu stellen – das geht alles in meinem Stream.« Auch Christian Ebner erkennt darin das positive Potential des Mediums: »Der größte positive Effekt von Games-Streaming ist sicherlich das breite Angebot bei gleichzeitigem Fokus auf das Formen einer Gemeinschaft. Neben bloßer Unterhaltung kann man auf den Plattformen Teil von durchaus wohlwollenden und positiven Gemeinschaften werden.« Und das manchmal sogar, ganz ohne Geld zu bezahlen.