Wenn die Kids wieder mal am Computer hängen, machen sich viele Eltern Sorgen. In den meisten Fällen sind diese Gedanken aber unbegründet. Wo die Grenze zur Sucht beginnt und auf welche Warnsignale man achten kann erklärt Dr. Isabel Brandhorst im Interview. Sie ist Leiterin der Forschungsgruppe Internetnutzungsstörungen und Computerspielsucht am Universitätsklinikum Tübingen, forscht zu Nutzungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen und arbeitet mit Betroffenen.
Ein Interview von Nora Beyer
Spieleratgeber: Frau Dr. Brandhorst, ganz grundsätzlich: Welche Mechanismen und Suchtpotentiale gibt es denn überhaupt in Spielen?
Brandhorst: Das Positionspapier des Fachverbands für Medienabhängigkeit nennt verschiedene Aspekte in Computerspielen, die die Bindung fördern. Ein Kliniker würde das Einflussfaktoren auf eine mögliche Suchtentwicklung nennen. Jemand aus der Spieleindustrie-PR würde wiederum Kundenbindungsstrategien sagen. Die Perspektive ist da also immer auch entscheidend, wie wir das benennen und bewerten. Ein Faktor in dem Positionspapier ist etwa die Dauer des Spiels. Spiele, die sehr lange dauern oder gar kein Ende haben, binden stärker. Ein anderer Faktor ist eine hohe Spielfrequenz. Sowas hat man etwa bei dem populären Fußball-Spiel FIFA oder in anderen Spielen, bei denen man zu einer bestimmten Zeit im Spiel sein muss, um sich zum Beispiel Belohnungen abzuholen oder Spezialaktionen freizuschalten. Bei FIFA gibt es etwa die Weekend-Leagues. Solche Spiele pushen Spielende. Zumal oft sozialer Druck entsteht, wenn Spiele im Team gespielt werden und das Gefühl vermittelt wird, Teammitglieder ansonsten im Stich zu lassen. Dann kommen noch intermittierende Belohnungsmechanismen hinzu – also Belohnungen, die unregelmäßig auftauchen und verstärkt im Gehirn abgespeichert werden. Handelssysteme sind auch ein Faktor. Also etwa Glücksspiel-ähnliche Mechanismen, Mikrotransaktionen und inGame-Käufe. Je mehr Spielende dort investieren, desto stärker werden sie an das Spiel gebunden. Und auch wichtig: Die Identifikation mit einer Spielfigur. Die kann man ja oft ganz individuell gestalten und entwickeln und das führt dazu, dass sich die Spielenden stärker mit ihrer Figur identifizieren.
Spieleratgeber: Ab wann wird es denn gefährlich? Ab wann kann man von exzessiver Mediennutzung sprechen?
Brandhorst: Ich benutze den Begriff ‚exzessiv‘ in dem Zusammenhang gar nicht. Der bedeutet ja ‚übermäßig viel‘ und wir wissen schlicht nicht, was übermäßig viel bedeutet. Die Suchtkriterien beinhalten nicht die Dauer der Nutzung.
Spieleratgeber: Heißt?
Brandhorst: Das heißt, jemand kann acht Stunden am Tag online sein und aber weit entfernt von einer Sucht. Und jemand anderes kann mit acht Stunden am Tag massiv süchtig sein. Das kommt immer auf den Kontext an. Wie gestaltet sich mein Leben drumherum? Vernachlässige ich dieses? Die Zeit ist dabei nicht entscheidend. Laut der aktuellen JIM-Studie des medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest spielen Jungs zwischen 12-19 Jahren 130 Minuten pro Tag und die Mädchen 87 Minuten. Nur zwei Prozent der Jungs und zehn Prozent der Mädchen spielen gar nicht. Zugleich entwickeln „nur“ 3,5 Prozent der Jugendlichen in Deutschland eine Sucht. Trotz der also relativ hohen Nutzungszeiten entwickeln die meisten keine Sucht.
Spieleratgeber: Wie erleben Sie die klinische Arbeit mit Betroffenen?
Brandhorst: In Behandlung haben wir meistens Jugendliche mit komorbiden Störungen. Die häufigsten sind Depressionen, Angststörungen und ADHS. Da wird dann etwa oft zuerst die Depression behandelt, wenn diese als mitursächlich für die Computerspielsucht betrachtet wird. Manchmal kann man aber auch gar nicht sagen, was zuerst entstanden ist. Zentral ist: Die Hälfte der Arbeit ist Motivationsarbeit. Die Jugendlichen kommen in die Sprechstunde meist motiviert durch die Eltern und nicht aus eigenem Antrieb. Es ist die halbe Miete, da an der Motivation zu arbeiten. Damit die Jugendlichen selbst die Erkenntnis haben: Ich möchte etwas verändern. Mein klinischer Ansatz ist: Ich versuche, einen kontrollierten Konsum zu erreichen. Genieße das Computerspiel in Klasse, aber nicht in Masse. Andere Mediziner sehen das anders und sprechen sich für komplette Abstinenz aus. Das kann ich in Bezug auf einzelne Spiele auch verstehen. Aber in Bezug auf die Gesamtheit der Spiele sehe ich das anders. Es gibt ja auch Spiele mit geringem Suchtpotential und da halte ich eine Generalisierung nicht für sinnvoll. Eine interessante Zahl im klinischen Kontext ist auch: Es gibt da eine relativ hohe spontane Remissionsrate von einem Viertel der Betroffenen. Das heißt, bis zu einem Viertel der betroffenen Jugendlichen verliert die Symptomatik nach einiger Zeit auch ohne Behandlung.
Spieleratgeber: 2018 hat die WHO Computerspielsucht in ihren Katalog der Krankheiten aufgenommen. Eine Entscheidung, die seit damals von vielen kritisiert wurde. Auch weil hier ein Alltagshandeln, das allein in Deutschland über 30 Millionen Menschen betreiben, potentiell pathologisiert wird und darunterliegende Probleme verdeckt zu werden drohen. Wie sehen Sie das?
Brandhorst: Ich kann die Kritik an der Entscheidung der WHO an der Stelle nicht nachvollziehen. Nehmen wir mal das Beispiel Alkohol. Niemand würde bestreiten, dass es Alkoholabhängigkeit als Sucht gibt und trotzdem wird Alkohol ja nicht grundsätzlich als Problem in unserer Gesellschaft betrachtet. Es steht ja nicht jeder, der Alkohol trinkt, im Verdacht, eine Alkoholsucht zu haben. So ähnlich ist es bei den Computerspielern. Die Suchtkriterien sind da ja eindeutig. Mit diesen Kriterien vor Augen sehe ich es nicht, wie man der WHO den Vorwurf machen könnte, die große Masse der Kinder und Jugendlichen pauschal zu pathologisieren.
Spieleratgeber: Welche Suchtkriterien sind das genau?
Brandhorst: Es müssen sich negative Konsequenzen aus der Nutzung ergeben und die Problematik muss in der Regel seit mindestens zwölf Monaten vorliegen. Also, wer zwölf Monate lang unkontrolliert Computerspiele spielt, dies immer höher priorisiert und andere Lebensbereiche dadurch vernachlässigt und das eigene Verhalten trotz der negativen Konsequenzen fortsetzt – erst der gilt als süchtig. Faktoren sind also: Der Kontrollverlust, die Priorisierung gegenüber anderen Lebensbereichen – also etwa Schule, Freunde, Familie aber auch Dinge wie Körperpflege, Gesundheit, Schlaf, Ernährung. Und eben: Das Fortsetzen des Nutzungsverhaltens trotz negativer Konsequenzen, zum Beispiel schlechter Schulleistungen oder Freundschaften, die deswegen zu Bruch gehen. Gerade bei Jugendlichen ist das aber oft sehr schwierig zu entscheiden: Geht der jetzt nicht mehr zum Fußballverein, weil der Trainer gewechselt hat oder sein Kumpel nicht mehr hingeht oder wirklich, weil er im Computerspielen festhängt?
Spieleratgeber: Was kann Eltern bei der Einschätzung helfen?
Brandhorst: Erstmal: Für mich gibt es da zwei Situationen. Die Kinder zeigen heute ja oft schon im Grundschulalter eine hohe Medienaffinität und diskutieren viel mit ihren Eltern über längere Mediennutzungszeiten. Da hat man als Eltern dann schon mal das Gefühl, dass das Kind so eine Gier danach hat, dass es nichts machen würde außer Zocken, wenn man es ließe. Das ist für mich eine andere Situation als bei Jugendlichen. Die haben ja auch die Aufgabe, eine gewisse Autonomie zu entwickeln, sich von den Regeln der Eltern abzugrenzen und Selbstkontrolle zu trainieren. Meiner Ansicht nach können Kinder noch gar keine Sucht entwickeln, weil das ja voraussetzt, dass sie grundsätzlich Kontrollfähigkeit haben und ich bin der Meinung, das gilt für die meisten Kinder im Grundschulalter einfach noch nicht.
Spieleratgeber: Und bei Jugendlichen: Wie können sich Eltern verhalten?
Brandhorst: Die Erfahrung zeigt, dass die Begrenzung von Mediennutzungszeiten oft überbewertet und vor allem zu selten mit den Jugendlichen selbst vereinbart wird. Da lesen Eltern Ratgeber und dann steht da zehn Minuten Mediennutzung pro Tag pro Lebensjahr. Das klingt erstmal nach viel – 140 Minuten pro Tag für einen Vierzehnjährigen. Aber das bezieht sich auf die komplette Mediennutzung. Also das hieße dann vielleicht maximal eine Stunde Computerspielen, weil der Rest für WhatsApp und Fernsehen draufgeht. Das mag manchen reichen. Aber viele Jugendliche werden da permanent dagegen arbeiten. Und dann wird das schnell zu einem Katz-und-Maus-Spiel. Nach dem Motto: Ich trage nur den Mülleimer raus, wenn ich dann noch zehn Minuten länger zocken darf.
Spieleratgeber: Und das machen die Eltern dann wiederum nicht mit…
Brandhorst: Genau. Die Eltern wollen umgekehrt nicht mit sich diskutieren lassen und dann verschaffen sich die Jugendlichen Zugang über irgendwelche Umwege. Da hat man schnell festgefahrene Fronten. Und arbeitet sich nur noch an der Mediennutzungszeit ab. Es wird zum Kampf und die Jugendlichen verlieren in diesem Kampf die Fähigkeit, sich auch mal kritisch zu reflektieren. Mit den Eltern kann man nicht mehr darüber sprechen, weil die ja längst zu Gegnern geworden sind. Da sollten sich die Eltern aus meiner Sicht wieder auf das Wichtige konzentrieren: Nämlich auf die Bedürfnisse und Gefühle und die Eltern-Kind-Beziehung. Die sollte unter der Aushandlung von Nutzungszeiten nicht leiden. Das erreicht man zum Beispiel über kommunikative Strategien. Also, dass Eltern etwa nicht sagen: „Mach jetzt die blöde Kiste aus und komm zu Tisch!“ und das einfach nur einfordern, weil das eben eine Regel ist, die man so macht.
Spieleratgeber: Sondern?
Brandhorst: Sondern man kann sowas sagen wie: „Ich sehe, du bist gerade am Computer. Es ist jetzt neunzehn Uhr und wir hatten vereinbart, um neunzehn Uhr zu essen. Ich würde mich total freuen, wenn du dazukommst, weil es mit dir einfach viel mehr Spaß macht und ich interessiere mich dafür, wie es dir geht und wie dein Tag war. Kannst du bitte ausschalten und zum Essen kommen?“
Spieleratgeber: Das funktioniert?
Brandhorst (lacht): Kann natürlich sein, dass der Jugendliche dann trotzdem nicht zum Essen kommt. Aber es ist einfach eine komplett andere Botschaft. Und eröffnet auch die Möglichkeit, nach dem Essen oder nach dem Spielen nochmal über das Thema zu sprechen. Und eben auch darüber zu reden, warum jetzt hier eine Priorisierung vom Computerspielen gegenüber der Familie stattfand. Das gibt einem auch die Chance, sich die Perspektive des Jugendlichen anzuhören. Vielleicht war es wirklich eine Ausnahme, weil er gerade an einer besonderen Stelle im Spiel war und dann wäre es unter Umständen eine Lösung, bestimmte Levelabschnitte vor dem Essen etwa gar nicht mehr anzufangen. Kurz: Das Medium sollte nicht einfach verteufelt werden, sondern man sollte in einen wertschätzenden Dialog gehen, der sich auf Bedürfnisse und Gefühle konzentriert und die Wünsche beider Seiten herausstellt. Das bedeutet aber auf Elternseite auch, die eigenen Wünsche zu hinterfragen: Warum will ich das denn eigentlich, dass der Jugendliche zum Essen kommt? Einfach nur, weil sich das eben vermeintlich so gehört, weil man das eben so macht in Deutschland? Das wird kein Kind und keinen Jugendlichen motivieren.
Spieleratgeber: Das klingt, als könnten Eltern da auch noch viel lernen.
Brandhorst: Deswegen haben wir etwa ein spezielles Elterntraining entwickelt. Das Angebot gibt es kostenfrei online unter www.elterntraining-internetsucht.de. Die Ergebnisse kommen einer Studie zugute, die wir momentan durchführen. Mit dem ISES! Onlinetraining unterstützen wir außerdem Eltern von Kids und Jugendlichen, die ein riskantes Nutzungsverhalten zeigen oder bereits eine Sucht entwickelt haben.
Literatur:
- Wartberg, Lutz; Kriston, Levente; Thomasius, Rainer (2020): Internet gaming disorder and problematic social media use in a representative sample of German adolescents: Prevalence estimates, comorbid depressive symptoms and related psychosocial aspects. In: Computers in Human Behavior 103, S. 31–36.
- Pan, Yuan-Chien; Chiu, Yu-Chuan; Lin, Yu-Hsuan (2020): Systematic review and meta-analysis of epidemiology of internet addiction. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 118, S. 612–622. DOI: 10.1016/j.neubiorev.2020.08.013.